Meine Mutter ist 86 und durch pandemische Fehlernährung, genetische Veranlagung und überdurchschnittliches Alter sichtlich beeinträchtigt. Ehm, soll heißen: Diabetes 2 schränkt ihr Sehvermögen ein. Sie hat als Kind des 2. Weltkriegs auf eine akademische Ausbildung verzichtet, dafür ihr ganzes Leben fleißig ihren deutschen Niedriglohnhauptjob erledigt, plus in einem Nebenjob gearbeitet. Das alles, um das Sofa zu finanzieren und einmal im Jahr mit uns Kindern in Urlaub zu fahren. Es war vorhersehbar und ließ sich nicht abwenden: ihre Rente reicht nicht, um die private Zuzahlung zur Augen-OP aufzubringen.
Gut, dass es Mark Zuckerberg gibt. Der Vater der sozialen Netzwerke hat sein Kind in Meta umbenannt, jetzt fiebert die Welt wie damals im wohlhabenden Holland nach Blumenzwiebeln. Das Metaverse wird kommen und es wird uns anarchistische Erlösung bringen, oder?!
Mark Zuckerberg und Millionen andere haben eine vage Vorstellung davon, was unsere Gesellschaft in Zukunft digital wirklich braucht und will. Meine Mutter sieht das anders. Sie möchte keine Augmented Reality Brille aufsetzen, um professionell produzierte 3D-Umgebungen, Influencer Content einen fiktiven Bankschalter zu sehen. Sie will sehen!
Das Metaverse muss es auf Rezept geben! Und die Krankenkasse sind Werbekunden. Meine Mutter möchte sich 2025 von mir nach Johannesburg einladen lassen und den Weg vom Flughafen in meine Villa direkt in ihre Netzhaut projiziert bekommen. Auf dem Weg ans Ziel will sie deutschsprachige Außenwerbung sehen. Südafrikanisches Englisch, das sie auch ohne Akzent nicht verstehen würde, soll in Echtzeit in ihre Retina als Textübersetzung eingeblendet werden. Ihr persönlicher AI-Assistent soll sie an die Einnahme ihrer Tabletten erinnern, sie ist dann immerhin 89, und er soll ihre Vitalfunktionen checken, damit ich ein gutes Gefühl habe. Ich als ihr Sohn möchte sie dank des eingebauten GPS-Trackers jederzeit in greifbarer Sicherheit wissen, denn wer weiß, ob die dann fahrerlosen Autos tatsächlich so zuverlässig funktionieren. Immerhin wird sie auf ihrer Fahrt eine außergewöhnliche KFZ-Innenscheiben-Projektion genießen können, die ich ihr zusammengestellt haben werde. Touristische Highlights und ihren von der Agentur für Altersarbeit 100% geförderten Sprachkurs wird sie eingespielt bekommen und auf ihrem Rückweg erfolgreich absolviert haben… Und das alles ohne Zuzahlung, denn Marks Metaverse wird zu 100% werbefinanziert sein! Nie zuvor, werden wir dann sagen, war es möglich, so nah an Menschen heranzukommen.
Ich wünsche mir, dass diese Vision in Erfüllung geht. In einer Zeit, in der freies Reisen und Reden nicht immer so frei ist, ist es gut, zumindest die perspektivische Chance auf digitale Freiheit zu haben. Ich werde in das Metaverse investieren! Aber an welcher Stelle?
Was ich heute von „Experten“ und Medienvertretern über das Metaverse lese, ist größtenteils die Repräsentation fehlender Fantasie, Kurzsichtigkeit und Profitorientierung. Das Metaverse aka Web 3.0 kann wirklich etwas verändern, es kann für unsere Gesellschaft einen autonomen Neuanfang bedeuten und diejenigen, denen es schon heute an sozialen Kontakten mangelt, in die Arme nehmen. Aber bitte nicht mit AR-Brillen, das ist so cheesy! Und sicherlich auch nicht primär durch den Erwerb von virtuellen Properties, die nur in einer Neuinterpretation makroökonomischer Grundlagen einen Wert erzielen können. Denn: Wo es keine Verknappung gibt (=im multidimensionalen virtuellen Raum), kann es keinen Wert geben, wenn es keine nachhaltige Konzentration von Nachfrage an verkaufbaren Orten gibt.
An diesem Verständnisproblem sind schon bei der niederländischen Tulpenkrise 1637 sehr viele bankrott gegangen; natürlich diejenigen zuerst, die über wenig Grundkapital verfügten, also ihr letztes Hemd auf steigende Preise gesetzt haben. Die 790 Millionen Menschen, die im frühen 17. Jahrhundert auf unserem Planeten gelebt haben, haben wohl die Lust an der Spekulation weitergegeben, aber nicht vor der Ignoranz von Risiken gewarnt. Heute teilen wir mit 7.79 Milliarden Einwohnern denselben Planeten: Die Fantasien, die Mark mit seinem Meta triggert, sind flacher denn je und lassen schon vorausahnen, dass es da künftig so etwas wie die Wiederholung der Tulpenkrise und der Internet-Blase 2000 geben könnte, die mit einem lauten Knall platzt. Nicht, weil das Konzept eines Metaversums schlecht ist, sondern weil die Vision zu unscharf gezeichnet ist und bei den meisten großen (und nicht pleite zu machenden) Initiatoren Geld und nicht Humanität im Vordergrund steht.
Die digitale Welt ist ein genialer Wertschöpfungsmotor. Sie besteht im Wesentlichen aus den Bereichen Hardware (heutzutage weitgehend austauschbar – sorry, Apple-ianer!) und Software: Produktivität, Wissenschaft, Analyse – Kreativität – Produktion – Überwachung – Kommunikation – Sicherheit – Spiel – Sport – Künstliche Intelligenz… Das heute existierende Web 2.X ist „sozial“, aber es ist meist nur zweidimensional multimedial und längst nicht authentisch, organisch, interaktiv genug. Wir sprechen, gestikulieren und berühren unsere Computer. So fühlt sich aber kein Mensch an!
Mark, mach Meta zu einem Ort der Liebe, der Diskretion, der zweiten Identität, die man nicht aufsetzt, sondern sich einpflanzt. Meine Mutter ist dabei, ich bin dabei!